Gedanken zum 3.10.2020 von Wolfgang Schaller, Zeitzeuge und Kabarettist der Herkuleskeule – Dresdens Kabarett-Theater
Ehe WIR es vergessen: W I R haben 30 Jahre DEUTSCHE EINHEIT.
Ich bin – Ein kleinbürgerlicher Revolutionär
Ich sitze gern an meinem Goldfischteich und denke über die Veränderbarkeit der Welt nach.
Wer Visionen hat, muss zum Arzt gehen, sagte Doktor allwissend. Auch einem klugen Mann gelingt einmal ein dummer Spruch. Ohne Visionen gäbe es Stillstand. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien. Sagte Oscar Wilde. Utopien sind wie eine Fata Morgana. Gehen wir weiter auf sie zu, entfernt sie sich weiter. Wir kommen nie an. Aber wir bewegen uns.
Ich erinnere mich noch genau an jenen Oktobertag vor dreißig Jahren: Ich war in einem anderen Land. Ich wollte in kein anderes Land. Dort, wo ich herkam, war ich nicht zu Hause. Dort, wo ich hinkam, wollte ich nicht hin. Ich bin nicht weggegangen. Ich bin nicht angekommen. Als die Mauer fiel, da wusste ich: Jetzt ist es aus mit dem Traum vom menschlicheren Sozialismus. Das war ein Traum, den ich gar nicht mehr hatte. Aber dann kann der Gorbatschow mit Perestroika und Glasnost. Und da hatte ich noch mal den Traum. Er war wie ein Strohhalm, an dem ich mich festhielt. Mit der Lüge Hoffnung schrieb es sich besser. Ich habe an einen besseren Sozialismus geglaubt. Seitdem weiß ich, wie schön auch für einen Atheisten Glaube sein kann. Ich bin wohl den Traum zu spät losgeworden.
Nach jenen Oktobertagen 89 war ich plötzlich umgeben von lauter Widerstandskämpfern, die saßen alle gestern noch im Hintern der Partei. Ich kannte Rotkehlchen, die zur Wendezeit als Haubentaucher abtauchten und dann als alternde Schwarzdrossel wiederauftauchten. So schnell konnte ich nicht umvögeln.
Damit sie mich richtig missverstehen: Wir leben in einem schönen Land. Den meisten geht es gut. Vielen geht es so gut, wie es noch niemandem in diesem Land gutging. Wir haben alles, was wir brauchen. Wie haben alles, was wir nicht brauchen. Die meisten haben so viel, dass sie gar keinen Grund mehr sehen, früh aufzustehen. Und das ist vielleicht der Grund, warum wir verloren sind: Wir brauchen keine Träume mehr von einer besseren Welt. Wir haben keine Utopien mehr. Wir sollten zum Arzt gehen. „Der Traum wird geträumt werden bis zum Untergang der Welt. Menschen, denen das Träumen verwehrt wird, haben keine andere Heimat als den Wahnsinn“. Das sind Sätze von Heiner Müller, dem großen Dichter.
Das Schönste an der DDR war der Traum von ihr. Das Schlimmste an der DDR war ihre Wirklichkeit. Das war ein vormundschaftlicher Staat mir Gesinnungsterror und Repressalien gegen Andersdenkende. Dieser Sozialismus musste untergehen. Weil er keiner war. Der Kapitalismus wird untergehen. Weil er einer ist. Die DDR war eine Diktatur der Ideologie. Der Kapitalismus ist eine Diktatur des Geldes. Wer Geld hat, für den ist der Kapitalismus die reinste Freiheit. Ohne Geld ist die Freiheit der reinste Kapitalismus. Nun sagten meine Kollegen und Freunde zu mir: 30 Jahre deutsche Einheit – du kannst darüber erzählen. Du in deinem Alter. Na gut, das klingt so, als wäre ich bei der Oktoberrevolution schon dabeigewesen. Aber nun haben Sie mit diesem Buch meine gesammelte Sprachlosigkeit zwischen einem verlorenen Dreigroschenstaat in der Diktatur und einer verlorenen Geldanlage in der Freiheit gekauft. Es schadet mir nicht, wenn Sie meine Notizen aus der fernöstlichen Provinz gar nicht erst lesen. Sie haben das Buch gekauft, ich erhalte 10 Prozent des Kaufpreises – der Geschädigte sind also höchstens Sie. Sie tun mir leid. Und wenn Sie beim Lesen feststellen, dass Sie ganz anderer Meinung sind – ich gestehe Ihnen: Ich kann meine Meinung auch nicht leiden. Sie macht mit nur Ärger. Aber ich habe leider keine andere.
“Ehe ich es vergesse” ist der Titel eines Buches des Kabarettisten Wolfgang Schaller, dem dieser Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Eulenspiegel Verlagsgruppe entnommen wurde. (c) Eulenspiegel Verlagsgruppe Berlin, 2020
Auch die anderen Kapitel sind lesenswert und nachdenkenswert.
Ein lesenswerter Beitrag, der nachdenklich macht.
Ja, was waren das für Zeiten, wenn die Genossen so ein, zwei Jahre
vor diesen 30 Jahren von ihren montäglichen Parteiversammlungen
kamen und man sie fragte::
„Was macht Ihr da eigentlich auf Euren Sitzungen? Merkt Ihr nicht
die Stimmung in der Bevölkerung?“
Und man zur Antwort bekam: “ Ihr, als Nichtgenossen könnt da viel
mehr sagen als wir , “ Das zeigt doch, es gab keine Dialogbereitschaft,
nicht mal innerhalb der Partei.
Wurde man wenige Monate vor der Einheit noch in die Friedensfeind-Ecke
gestellt, wenn zu wenig Solidaritätsgeld gezahlt wurde, waren
die meisten Parteibücher nach dem Einheitstag „verlorengegangen“
und die Mitgliedsbücher der Gewerkscrhaft weggeschmissen worden.
(- Was haben die Genossen in den Parteischulungen da blos gelernt? -)
So kommen sich heute die damaligen Nichtgenossen vor, als wären
“ sie “ in der Partei gewesen, und die anderen waren einfach nur da.
Was war das für ein Jubel vor 30 Jahren. Endlich konnte man über alles
frei reden, konnte, mit richigem Geld in den Händen, auch frei reisen,
sich die Schönheiten und auch das Elend der Welt ansehen. Die Angst um
den Arbeitsplatz ließ aber viele meist daheim, derweil die cleveren
Brüder und Schwestern auf Immobilien-Schnäppchenjagd gingen.
Der ansonsten recht seltene Vogel, Jynx torquilla L. (Wendehals), schwirrte
plötzlich in Massen unruhig und etwas verwirrt durch die Landschaft.
Und heute, nach 30 Jahren ? Da gibt es kaum mehr Schäppchen.
Alles ist verteilt, die damaligen Parteibuchträger sind sehr gut angepasst,
daß Wort Investor hat in jeder Beziehung magische Anziehungskraft,
und sehr oder auch weniger konservative Menschen werden bei kleinster
gegenteiliger Meinungsäußerung sofort in die rechte Ecke verwiesen,
den Rechtsextremem zugeordnet.
Wie war das damals mit dem Solidaritätsgeld, den Parteiversammlungen
und der Stimmung in der Bevölkerung ?
Ich bin, glaube ich, auch ein kleinbürgerlicher Revolutionär !
Deshalb spreche ich auch nur vom Mauerfall,
denn ich war nicht mal Mitglied einer Block-Partei.