Alle in der DDR Aufgewachsenen kennen wohl die Sehnsuchtsgefühle, die man empfand, wenn man historisch und geografisch bedeutsame Namen hörte, ohne die Chance zu haben, diese auf einer Reise selbst kennenzulernen.
Im Schulunterricht erfuhren wir durchaus von Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus“, den er am 6. Dezember 1801 bis 1. April 1802 unternahm. Sein Erlebnisbericht beschreibt er auf eine bis dahin unbekannte Art: eigenwillig, politisch, kritisch, alltagsnah und poetisch, z.B.: „An den Bergen lagen die freundlichen Dörfer umher und der Fluß wand sich gekrümmt durch die Bergschluchten hinab, in denen kein Pfad und kein Eichbaum mir unbekannt waren.“ Er wurde damit für viele zum Vorbild, so auch für Heinrich Heine.
1995 erschien ein kleiner Erzählband des Schriftstellers Friedrich Christian Delius „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“, der auf einer wahren Begebenheit beruht. Ein Mann namens Klaus Müller war 1988 unter Einsatz seines Lebens nachts von Hiddensee nach Dänemark gesegelt und wurde Vorbild für die Romanfigur Paul Gompit, der bescheiden, nicht auftrumpfend, doch unbeirrbar, von Seumes Werk inspiriert, eine Bildungs- und Pilgerreise nach Syrakus auf Sizilien antreten will. Dies mit der festen Absicht, in die DDR zurückzukehren, auch wenn das Zurückkommen nicht einfach sein würde. Der Leser hingegen weiß, dass es schon ein gutes Jahr später diese Dramatik nicht mehr geben wird.
Der in Rom geborene Schriftsteller Friedrich Christian Delius, Sohn eines Pfarrers, wuchs in Hessen auf, studierte an der FU Berlin Literaturwissenschaft und promoviert an der TU Berlin zum Dr. der Philosophie. Unter anderem war er 50 Jahre Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland. Die Laudatio bei der Vergabe des Georg-Bücher-Preises 2011 hob seine in Romanen und Erzählungen zum Ausdruck gebrachten und durch seine Romanfiguren verkörperten Befindlichkeiten der Deutschen hervor.
Genau dies trifft auch auf die differenzierte, umfassend kritische und erhellende Betrachtung der DDR- wie auch der westdeutschen Bundesbürger in dem kleinen Band „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ zu. Sehnsucht überwindet aberwitzig die hermetisch abgeschotteten Grenzen des ehemaligen DDR-Staates. Wie in einem Krimi lesen sich reale Gegebenheiten des Abenteuers, von dem Wunsch getrieben, sein Sehnsuchtsziel zu erreichen, von den komplizierten, jahrelangen, vorsichtigen und total verschwiegenen Vorbereitungen bis zu den Einzelerlebnissen der bis ins Detail und nur im Kopf gespeicherten geplanten Reiseroute. Dabei orientiert er sich an Seumes Syrakus-Wanderung und reflektiert auch Goethes Faust im Sinne von „….hier bin ich Mensch, hier möcht ich sein“. Dies insbesondere gegen Ende seiner Reise in der norditalienischen Stadt Mantua, als auf der Piazza genau die Ouvertüre von Verdis Rigoletto abgespielt wird, die sich für ihn seit einem Filmerlebnis in seiner Jugend mit Italien verbindet.